Vorwort

Im Frühjahr 2013 habe ich etwas Zeit in Seattle, dem nordwestlichen Zipfel der USA verbringen können. Dabei habe ich die Stadt hauptsächlich zu Fuß oder zeitweise auch mit dem Fahrrad erkunden können und habe die ein oder andere kleine Kuriosität gefunden. Von dem folgenden Wahrzeichen habe ich tatsächlich erst vor Ort in einem Flyer erfahren.

In letzter Zeit habe ich einige hübsche Geschichten über Trolle gelesen und bin über Parallelen und Unterschiede zwischen den Trollen der skandinavischen Folklore gestolpert. Ich musste dabei immer wieder an den Troll in Fremont denken. Das hier ist seine Geschichte.


Der Fremont Troll


Der Legende nach lebte unter der viel befahrenen Aurora Bridge in Seattles Stadtteil Fremont einst ein Troll. Ein Ungetüm, groß wie ein Haus, welches angeblich im Reisegepäck skandinavischer Holzarbeiter seinen Weg hierher gefunden hat. Im Hinterland des Industriegebiets am Nordufer des Lake Union fand er reichlich Nahrung, in Form von unvorsichtigen Saufbolden, Kindern, die sich des Nachts aus dem Haus schlichen und gelegentlich einem Auto und dessen Insassen. So muss er einige Zeit gut gelebt haben, im Schutz der Brücke und der Nächte.

Doch das Stadtbild wandelte sich. Die Industrie zog weiter, als sich die Vororte von Seattle um den See herum ausbreiteten. Zurück blieben leere Hallen und Fabriken, in denen sich bald schon eine Bevölkerungsschicht ansiedelte, die klassischerweise arm, eher dünn und schlecht genährt ist: die Künstler. Für Fremont hieß das, die grauen Fabrikanlagen bekamen etwas bunte Farbe ab. Für den Troll hieß das, seine Suche nach Nahrung wurde erschwert. Immer wieder musste er seine Streifzüge bis in die frühen Morgenstunden ausdehnen.

Dann, eines Nachts, im Herbst 1990, legte ein junges Pärchen einen Zwischenstopp unter der Aurora Bridge ein, auf ihrem Roadtrip entlang der Küste. Diese Reise war ihre Art, ihr einzig wahres Idol und den König, Elvis, hochleben zu lassen. Unter dem Brückenkopf schienen sie die perfekte Übernachtungsmöglichkeit für sich und ihren VW Käfer gefunden zu haben. Dem Troll kam dies nach einigen ausgehungerten Nächten sehr gelegen und so wagte er sich früher an diesem verregneten Abend aus seiner Höhle. Er rechnete nicht mit dem Undenkbaren. Nämlich, dass ein letzter Sonnenstrahl der Abendsonne durch eine Wolkenlücke über der Salmon Bay schoss. Er traf ihn in dem Moment, als er den Käfer griff, um ihn in seinen Bau zu ziehen, und versteinerte ihn sofort.

Diese Geschichte ist natürlich frei erfunden und grober Unfug (fast), aber der Troll sitzt trotzdem an genau dieser Stelle unter dem Brückenkopf am Nordufer der Aurora Bridge. Er genießt eine wundervolle Aussicht auf das Ständerwerk der Brücke und den Fremont Cut, den Kanal, welcher Lake Union mit der Salmon Bay verbindet, ist etwa fünfeinhalb Meter hoch und wiegt solide 6,35 Tonnen. Sein Oberkörper wenigstens, denn mehr existiert von ihm leider nicht. Es ist eine Statue aus Stahl und Beton, mit einem etwas mürrischen Gesichtsausdruck, welche pünktlich zu Halloween 1990 dort ihre Enthüllung erfuhr und seitdem eines der Wahrzeichen Fremonts und auch Seattles ist.



Die Geschichte des Fremont Trolls beginnt im Jahre 1989, als dem Fremont Art Council vorgetragen wurde, dass man mit dem leeren Raum unter der Brücke etwas Schönes anfangen sollte. Der Ort hatte sich zur illegalen Müllkippe und einem bevorzugten Umschlagplatz für den lokalen Drogenhandel entwickelt. Der Council schrieb also einen Wettbewerb aus und stellte gleichzeitig die Jury, welche die eingegangenen Vorschläge auf fünf Finalisten zusammenfasste. Diese fünf Besten sollten dann als Modell auf dem Stadtfest den Bürgern zur Wahl gestellt werden. Der Troll des Teams „Jersey Devils“ unter Steve Badanes gewann die Abstimmung dermaßen überragend, dass die anderen Teilnehmer nicht einmal mehr Erwähnung finden.

Das Design des Trolls und seine Geschichte als Menschenfresser ist vor allem an den norwegischen, aber auch etwas den schwedischen Trollen orientiert. In beiden fällen können Trolle riesengroß werden, haben lange Haare und oft auch lange Bärte und einen außergewöhnlichen Hunger auf Menschenfleisch. Sie sind dabei nicht wirklich böse, oder werden nicht als böse Kreaturen wahrgenommen. Auch wenn sie gerne Streiche spielen und Menschen fressen, das ist einfach ihre Natur, für die sie nichts können. Die Inspiration zu diesem Kunstwerk und seine Geschichte entstand wohl in Anlehnung an eine alte (norwegische?) Volkssage um drei Ziegen, welche auf dem Weg zu ihren Bergweiden über eine Brücke müssen, unter welcher ein Troll lebt. „The Billy Goats Gruff“.


Für den Bau des Kunstwerks wurden Stahl, Draht, etwa zwei Tonnen Stahlfaserbeton und ein originaler Käfer mit Nummernschild aus Kalifornien und Erinnerungsstücken an Elvis Presley verbaut. Nummernschild und Elvis Memoria sind durch Vandalismus an der Statue inzwischen verschwunden. Der Käfer ist zur Hälfte unter der linken Pranke des Trolls begraben, mit der Rechten stützt er sich auf dem Boden ab. Es wirkt, als würde er sich vorbeugen, den Kopf mit den langen Haaren, dem Rauschebart und der riesigen Nase hervor strecken. Gerade so, als würde er sich über das rote Auto hinweg aus seiner Höhle ziehen.

Besucher werden dazu aufgefordert, mit dem Troll zu interagieren, auf ihn draufzuklettern (soweit das möglich ist) und ihm in das eine sichtbare Auge zu piksen. Als sein Auge dient übrigens eine Radkappe des Käfers. Die Interaktion umfasst offenbar nicht nur Gekletter, sondern auch bunte Kreide.


In seiner Funktion als Wahrzeichen des Stadtteils dient er als Startpunkt der jährlichen Halloween Parade. Diese ist eigentlich nur ein Randprodukt der „Trollaween Party“ und führt an diversen kuriosen Sehenswürdigkeiten des Ortsteils vorbei. Im Sommer ist der Troll Gastgeber des Theaterfestivals „Shakespeare at the Troll“, wo er als Bühne für ein heiteres Straßentheater herhalten darf. Gelegentlich bekommt er auch eine saisonale Verkleidung. Die Krönung als Wahrzeichen dürfte der Troll allerdings 2005 erfahren haben, als die Straße, über welche er wacht, zu seinen Ehren in „Troll Avenue“ umbenannt wurde.

Fußläufig vom Troll aus zu erreichen befindet sich der Firmensitz von Geocaching.com. So taucht der Troll auch immer wieder in diesem Zusammenhang auf und ist sogar Wächter über seinen ureigenen Cachepoint.